Canan Senol

     
     

Es war einmal ...

Canan Şenol befasst sich mit der Frage nach den Strukturen der Gesellschaft und deren Auswirkungen auf das individuelle Leben. Staat, Politik und Religion sind die drei Säulen jeder Gesellschaft. Zwischen ihnen ist ein engmaschiges Netz an Gesetzen, Riten und Bräuchen geknüpft, das die Privatsphäre fest umschließt und maßgebend konditioniert. So wird das Individuum zum manipulierbaren Spielzeug der Gesellschaft. Es empfindet seine Rechte und Pflichten als Zwang; es sieht sich seiner Freiheit beraubt und sucht Freiräume im Verborgenen oder in seinen Phantasien, in denen es ungestraft Macht und Gewalt ausüben kann.
Canan Şenol hat sich deshalb in Balmoral der Spielzeuge ihrer Tochter Nisa bedient und mit ihren Barbiepuppen Handlungsabläufe inszeniert und in Foto- oder Videosequenzen dargestellt, die Geschichten solch verborgener Gewaltausübung erzählen. Nicht umsonst trägt der Katalog den Titel „Es war einmal ...“ und hievt damit die Darstellungen vom Anekdotischen auf die Ebene der Erzählung und der Allgemeingültigkeit: an den Spielzeugen wird die Mechanik der Gesellschaft sichtbar.
Im Zyklus „Fabeln für Erwachsene“ etwa untersucht Şenol die kleinste gesellschaftliche Zelle, die Familie. Rosa fängt das Leben des Traumpaares an: Der ersten Begegnung folgen die festliche Hochzeit und leidenschaftliche Liebesnächte, getragen vom Wunsch nach Kindern. Doch die Idylle zerbricht an der Eintönigkeit des Alltags. In der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände entfalten sich unterschiedlichste Formen der Gewalt: Der Mann verprügelt seine Frau, was sie an den eigenen Kindern auslässt. Gedankenblasen, an denen sich wie im Comic die intimsten Wünsche der Partner ablesen lassen, verraten dem Betrachter, wie sehr Realität und Erwartungshaltung auseinander klaffen. Die Idylle wird zum Albtraum, und es kann kaum noch erstaunen, dass die Ehefrau danach trachtet, ihren groben „Pascha“ zu ermorden, um dem ungerechten Rollenspiel zu entkommen. Dabei zeigen ihre sexuellen Phantasien gerade, dass sie die gleichen Wünsche hegt wie ihr Mann, sieht man einmal von der Tatsache ab, dass sie von zwei Männern statt von Frauen träumt. Şenol gibt damit ein wichtiges Statement ab: sie stellt ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern her und sagt, dass Mann und Frau sich in ihren Ansprüchen nicht unterscheiden. Beide versuchen, den allzu einengenden Alltagsbedingungen zu entkommen. Bedingt durch die unterschiedliche Rollenverteilung, entwickeln sie lediglich andersartige Strategien, um sich ihren Freiheitsanspruch zu erfüllen. Die Frau kann sich in der dargestellten kleinbürgerlichen Gesellschaft nur in Gedanken Luft verschaffen oder ihre Unbill an den Kindern auslassen. Trotz der verhältnismäßig untergeordneten Rolle, die sie in der Gesellschaft einnimmt, geht von ihr aber Kraft und Entschiedenheit aus: Ob sie ihre Aggressionen gegen die Kinder wendet oder in Gedanken ihren Gatten ermordet, man sieht eine emotional aufgewühlte Furie, die selbst im Affekt noch bewusst und zielgerichtet handelt. Mit der Stärke ihres Aufbegehrens, nicht etwa als Opfer, erheischt sie Sympathien der Betrachter.
Die soziale Rolle der Frau ist im Œuvre von Şenol oft thematisiert. Zum Beispiel paraphrasiert sie mit „Fountain“ Duchamp und kehrt dabei seine Aussage um. Dem leblosen Keramikbehälter, der nur zusammen mit dem männlichen Strahl zur Fontaine wird, setzt Şenol ein paar pralle, Milch spendende Brüste entgegen. In den wie zwei Euter schwer herab hängenden Brüsten zeigt sich die Ambivalenz der Frau, die sowohl Fruchtbarkeitsgöttin als auch Mutter ist und die schwere Last der Erziehung trägt.
Wie nuancenlos roh wirkt dagegen der männliche Protagonist, Action Man, wenn er als Vater die eigene kleine Tochter missbraucht, was der kleine Sohn beobachtet, bis er die Gewalt nachahmt und selbst zum Täter wird. Şenol bringt die Unbedachtheit der Handlungen besonders dadurch zum Ausdruck, dass sie die Kamera auf die teilnahmslosen Gesichter richtet und Großaufnahmen der Gelenke zeigt. Sie unterstreicht so das Mechanische des Handlungsablaufs und auch die Gedankenlosigkeit der Tat, die der Sohn leichtsinnig wie einen geschmacklosen Scherz wiederholt. Die Verantwortungslosigkeit, mit der das Delikt von Generation zu Generation fortgesetzt wird, ist bestürzend. Der Titel „nicht gesehen, nicht gehört, weiß nicht“ ist ein deutlicher Kommentar der Künstlerin zu dieser Gleichgültigkeit, die nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Nachbarn vorzuwerfen ist, die noch die ärgsten Missetaten im Nebenhaus dulden, ja im Stillen sogar genießen. Nicht die Fakten allein schockieren, sondern vor allem die Doppelmoral, die von allen Tatsachen absieht.
Sexueller Missbrauch ist nur eine Form der Gewalt in Canan Şenols Werk, das sich ebenso mit Verfolgung, Folter und Massenmord auseinandersetzt. So widmet Şenol den unzähligen, namenlosen Opfern des politischen oder religiösen Fanatismus, der Kriegswirren und Revolutionen, ihre Arbeit „here and there“. Nackte Barbiepuppen, in Plastiktüten eingehüllt, liegen nebeneinander, entsetzlich einsam und verlassen. Nicht die Grausamkeit der Darstellung - sie ist ja nur angedeutet - sondern die absolute Gleichgültigkeit des kollektiven Bewusstseins gegenüber den evidenten Gräueltaten erschüttert. Şenols Werk appelliert an die Gesellschaft, den mechanischen Schrecken wieder schockierend zu finden, auch wenn sie unter dem Einfluss der Bilderfluten des Fernsehens längst verlernt hat, sich selbst betroffen zu fühlen.

Danièle Perrier, Jahrbuch 2003, Einzelheft Canan Senol, S.1


english

Once Upon a Time...

Canan Senol addresses in her work the question of structures in society and their effects on the individual life. State, politics and religion are the three pillars of every society. Suspended in between these pillars is a close meshed net of laws, rites and customs which tightly encloses – and conditions – the private sphere. Thus individuals become the malleable toys of society. They perceive their rights and duties as coercion; they see themselves robbed of freedom and look for it instead in the realms of what is secret or imaginary where they can exercise power and practice violence unpunished.
In her recent work made and shown at Schloss Balmoral in Germany (2003), Canan Senol has deployed the toys of her daughter Nisa. With Nisa's Barbie dolls she has staged, photographed and filmed sequences of events which tell stories of such hidden acts of violence. Significantly, the catalogue is entitled Once Upon a Time..., thus hoisting the representations from the anecdotal onto the level of narration and suggesting universal applicability: the toys reflect the mechanics of society.
In her work Tales for Grown-Ups, for instance, Senol scrutinises the smallest cell of society, the family. The life of a “dream couple” starts out romantically. Their first encounter is soon followed by a grand wedding party and passionate erotic nights, underpinned by the desire to have children. But the monotony of everyday life ruptures the idyll. Within the seclusion of the family home develop a variety of forms of violence: the husband beats his wife, she takes it out on her own children.
Comic-strip thought bubbles revealing the most intimate thoughts of the partners paint a tell-tale picture of the divergence between reality and expectation for the spectator. The idyll becomes a nightmare, and it is hardly surprising that the wife dreams of taking the life of her manhandling macho in order to escape the unjust role game. And yet, her sexual fantasies show that her desires are identical to those of her husband, only she dreams of two men while he dreams of women. With this, Senol makes an important statement: in saying that there is no difference between male and female needs, she establishes an equilibrium between the genders. Both partners are trying to escape from the all too cramped conditions of everyday life. On account of the different roles allocated to them they merely develop different strategies to fulfil their need for freedom. In the petty-bourgeois society represented here, a woman cannot vent her frustration in any way other than in her imagination, or by taking her anger out on her children. Yet, despite the mainly subordinate position a woman occupies in society, she emanates strength and decisiveness: whether she acts aggressively towards her children or imagines murdering her husband, she appears as an emotionally troubled, furious person who, even when affected greatly by events, will act consciously and purposefully. It is the intensity of her rebellion, not her role as a victim, which ensures her the sympathy amongst spectators.
Woman’s social role is a central theme in Senol’s work. With Fountain, for example, she paraphrases Duchamp and inverts his statement. A lifeless ceramic bowl (which becomes a fountain only through its male spurt) is juxtaposed by Senol with a pair of plump, generously lactating breasts. The heavy breasts, hanging down like two udders, indicate woman’s ambivalent double role as fertility goddess and mother, weighed down by the heavy burden of bringing up children.
How brute and without nuances appears the male protagonist in Action Man by contrast. As a father, he abuses his own little daughter, observed by his little son who imitates his father’s violence and finally becomes a perpetrator himself. Senol expresses the improvidence of the action by directing the camera onto the impassive faces and by showing close-up shots of the joints. She thereby underlines the mechanical element of the sequence of events as well as the thoughtlessness of the deed which is carelessly copied by the son in the manner of repeating a tasteless joke. The irresponsibility with which the crime is passed on from one generation to the next is shocking. With the title Not Seen, Not Heard, Don't Know the artist comments decidedly on this complacency, accusing not only the protagonists of it but also the neighbours who endure – or actually quietly enjoy – even the greatest crimes next door. It is not the facts alone which shock us so, but the double moral standards which ignore all facts.
Sexual abuse is only one form of violence represented in Senol’s work; she also looks into the issues of persecution, torture and mass murder. Her work here and there is dedicated to the innumerable victims of political and religious fanaticism, wars and revolutions. Wrapped in plastic bags, naked Barbie dolls lie next to each other, dreadfully alone and abandoned. The unsettling factor here is not the cruelty of the representation – which after all is only hinted at – but the absolute indifference of the collective consciousness in the face of evident cruelties. Senol’s work appeals to society to rediscover the shock of mechanized horror, even if under the influence of a flood of TV images it has long since forgotten how to feel personally affected.

2003
Translation from German: Christina Thomson

Note
When Canon Senol's work was shown at Bad Ems, attempts were made to censor the exhibition and the case placed before the public prosecutor. The charge was not upheld. The exhibition nevertheless provoked a major public debate and was the subject of much controversy.


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