Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon

Kunst, die ins Leben wirken will

Church of Fear
Church of Fear Venedig Biennale 2003


Der Pavillon der Biennale in Venedig ruft Erinnerungen in mir wach. Schlingensief hatte seine Ankunft für den 9. September 2003 in Balmoral angemeldet. Als Regisseur von Parzival an den Bayreuther Festspielen war er auf der Spurensuche von Richard Wagner und seinem Helden. Am Tag zuvor bekam ich einen Anruf, ob ich helfen könne, er sei mit dem Schreitenden Leib auf dem Weg zum Deutschen Eck, von der Polizei eskortiert. In Neuwied hatte er sich zu einer spontanen Kundgebung entschlossen. Seine Parolen wirkten provokativ und als er auf interessierte Theologiestudenten zugeht, benachrichtigt ein Passant die Polizei. Dann erscheint ein großes Polizeiaufgebot. Schlingensief und sein Gefolge werden durchsucht. Ministerpräsident Beck und Kultusminister Zöllner werden benachrichtigt und setzten sich für Schlingensief ein. Ruhe kehrt ein, doch die Polizei traut der Sache nicht ganz und eskortiert den Schreitenden Leib nach Koblenz, wo die Presse auf Schlingensief wartet. – Nächster Tag: Bad Ems. Wir treffen uns vor der Sankt Martins Kirche. Schlingensief will rein, aber der Pfarrer hat die Türe seiner Kirche verbarrikadiert. Auf der Römerstraße folgen nur wenige Neugierige der Prozession. Im Theater will man uns auch nicht hineinlassen. Schlingensief forciert den Eingang. Die Künstlerin ist neugierig und unterbricht die Proben. Die Gelegenheit, einen berühmten Künstler persönlich kennen zu lernen, macht sichtlich Spaß. Wo Schlingensief auch hingeht: er provoziert mit seiner Church of Fear, mit dem Aufruf, sich der eigenen Ängste zu stellen und ruft diese dabei bei Vielen herbei. Kaum zu glauben: Der charmante, “romantische, pathetische und selbstverliebte Künstler“, wie er sich selbst sah und war, wirkte als Bürgerschreck.

Biennale 2011, Deutsches Pavillon. Schlingensief ist tot. Der Pavillon ist in einem Kirchenraum verwandelt, jenen, den er für das Fluxus Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir im Rahmen der Ruhrtriennale 2008 gestaltete. Es ist ein zu Lebzeiten inszeniertes Requiem, was durch Wagners Opernmusik, die mit Kirchenmusik und Fluxusmusik alterniert, dramaturgisch untermauert wird. Dreißig Jahre Filmmaterial wird auf drei große Leinwände parallel abgespielt, sodass die reiche Bildwelt sich immer wieder neu zusammensetzt. Wertigkeiten von Religion, Kunst, Leben und Tod werden hinterfragt. Zentral die Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit. Der tote Hase von Beuys wird auf dem Altar gestellt, in Filmen gewaschen, präpariert und, tot liegend, wie von Atmungsblasen durchzuckt, bis er sich in ein abstraktes Etwas verwandelt. Die Bezüge zu Fluxus sind vielfältig – das Tapp und Tastkino von Valie Export wird neu inszeniert, diesmal von einer alten Frau – Paik tritt in Szene und Beuys taucht überall auf. Ikonographische Symbole und Rituale verdichten sich, nur eben, mit einer anderen Konnotation: Nicht der Papst sondern eine Päpstin wird in die Sänfte herumgetragen, ebenso wie der Prototyp der Fruchtbarkeitsgöttinnen der Frühkulturen, rund und fett. Am Kreuz hängt nicht der schöne Jüngling, sondern ein Mensch mit Fehlbildungen. Schlingensief zwingt zum Umdenken, hier weniger provokativ als in Aktionen wie zum Beispiel bei Ausländer raus, die er anlässlich der Wiener Festwochen im April 2009 veranstaltete. Damals beteiligten sich Millionen Internetuser und stimmten pro und contra Rausschmiss. Währenddessen fanden auf der Straße hitzige Debatten statt. Die Passanten wurden ungewollt zu Akteuren, die Kunst griff direkt ins Leben ein. Hinter dem, was oft als Klamauk empfunden wird, verbirgt sich durchdachte Ernsthaftigkeit. Kunst greift in das Leben ein und soll es verändern. Das ist auch der Fall mit der Gründung des Operndorfes Afrika in der Nähe von Ouagadougou in Burkina Faso. Schlingensief lud den von dort gebürtigen und inzwischen weltbekannten Architekten Diébédo Francis Kéré ein, Architekturkonzept und Bauleitung zu übernehmen. Geld, Infrastrukturen, Ideen, das wollte er zum Projekt beisteuern, Form und Inhalte sollten die Afrikaner selbst liefern. Damit nimmt er entschieden Stellung gegen die um sich greifende Globalisierung.

Schlingensief ist nicht der einzige Künstler, der den Pavillon dazu nutzte gesellschaftlich relevante Alternativwege aufzuzeigen. Lobenswert ist in dieser Hinsicht Angel Vergaras Idee, seine Ausstellung im Belgischen Pavillon von Luc Tuymans kuratieren zu lassen. Zum ersten Mal stellen auf diese Weise ein Wallone und ein Flame gemeinsam aus, eine starke Botschaft im derzeit politisch zerrütteten Belgien, wenngleich das künstlerische Resultat etwas flach ist.

Stringent ist der von Sigalit Landau installierte Israelische Pavillon. Mit dem Video One Man‘s Floor is another Mans Feelings, spricht sie die schwierige politische Lage zwischen Israel und Jordanien auf einer sehr allgemeinen Ebene und in poetischer Weise an: Männer parzellieren im Spiel den Sand und versuchen die Grenzen des imaginären Landes immer wieder neu zu optimieren. Ein weiteres Video zeigt verhandelnde Partner an einem Konferenztisch. Es geht um den Bau einer Salzbrücke, die Israel und Jordanien verbinden soll. Man sieht nur unter dem Tisch, wo ein kleines Mädchen die Schnürsenkel der Beteiligten zusammen bindet, woraus sich die gegenseitige Abhängigkeit der Beteiligten dargestellt wird. Einer schlüpft aus dem Schuh und verlässt den Saal. Die Verhandlungen sind gescheitert. Über die politische und gesellschaftliche Dimension hinaus geht es auch um den brutalen Abbau geologischer Ressourcen, denn das rote Meer verschwindet ebenso wie der Aralsee.

Weitere Installationen und Werke, die Sie nicht missen sollten, sind:

Gloria von Jennifer Allora y Guillermo Calzadilla im Pavillon der USA,

...and Europe will be stunned von Yael Bartana im Polnischen Pavillon,

30 Days of running in the place von Ahmed Bassiouny im Ägyptischen Pavillon,

Crystall of Resistance von Thomas Hirschhorn im Schweizer Pavillon

Christian Marclay The Clock im Arsenale.

Danièle Perrier, Juni 2011

Kapital und Wirtschaftskrise, die Frage nach dem Sinn nationaler Pavillons im 21. Jahrhundert und eine mutige, den üblichen Rahmen der zeitgenössischen Kunst sprengende Vision von Massimo Gioni für den kuratierten Teil der Biennale sind die Schwerpunkte dieser sehenswerten Biennale. Mehr [271 KB]